VIII.

Die Vorproben des Jahres 1875.

[187] Studien mit Unger. – Soloproben mit dem Personal am Klavier. – Eintreffen Liszts. – Niemanns plötzliche Abreise. – Beginn der Orchester- und Gesamtproben im Festspielhaus unter Beteiligung zahlreicher auswärtiger Interessenten. – Verkehr mit den Künstlern. – Gartenfest in Wahnfried.


Die Verwirklichung meines Unternehmens kann nur durch den herzlichen und kräftigen Willen der vorzüglichen Künstler selbst tu ermöglichen sein, um deren Mitwirkung ich mich beworben habe.

Richard Wagner.


Daß bei der Wahl Georg Ungers zum Darsteller seines sonnig heiteren jugendlichen Helden nicht so sehr dessen hervorragendes stimmliches Material, als seine äußere Erscheinung, sein hoher Wuchs, seine wohlgebildete Gestalt den Ausschlag gegeben hatten, unterliegt nicht dem mindesten Zweifel; es geht bereits aus Wagners eignen, soeben ausgeführten Worten hervor. In seinem 38 Lebensjahre stehend, also längst über die erste Jugendblüte hinaus, war er ohne bemerkenswerten Erfolg an einer Anzahl kleinerer Bühnen, zuletzt in Mannheim tätig gewesen; er hatte gesangstechnisch noch die größten Schwierigkeiten zu überwinden. Als ein ›verlorenes, aber nicht energieloses Wesen‹ bezeichnete ihn der Meister gegen Heckel; dieser ›Energie‹, deren er fähig war, hatte er alles von ihm erreichte Gute zu danken; sie hob ihn über sich selbst und seine früheren Leistungen hinaus; ihr Nachlassen und die wiedereintretende Erschlaffung warf ihn wenige Jahre später (bereits in London 1877) in die frühere Unbedeutendkeit zurück. Freudig akzeptierte er die ihm gestellten Bedingungen: einjähriges Fernbleiben von der Bühne und ein ebenso langes ausschließliches Studium seiner Partie, in Verbindung mit gründlichen Gesangstudien bei Professor Julius Hey in München. Er hatte soeben ein Engagement nach Düsseldorf angenommen; sofort war er dazu bereit es zu lösen, nicht ohne dadurch in einen noch längere Zeit schwebenden Prozeß mit der dortigen Direktion zu geraten, und sich inzwischen mit derjenigen Sustentation zu begnügen, die ihm Wagner für die Zeit seines Studiums bieten [187] konnte. Bei diesem Studium war zweierlei zu unterscheiden: der eigentliche, bis dahin ihm noch abgehende Gesangsunterricht im rein technischen Sinne und die besondere Aneignung der ihm zugedachten umfangreichen Partie. Für den ersteren Zweck war er an Hey verwiesen, der als Stimmbildner und Vertreter einer spezifisch deutschen, nicht italienischen, Gesangstechnik Wagners volles Vertrauen besaß (er bezeichnete ihn in seiner, im Lobe seiner Künstler so gern überschwänglichen Weise ›in jeder Hinsicht als sein Ideal‹, und nannte ihn in einem Briefe den ›herrlichen‹ und den ›himmlischen‹ Hey). Für den letzteren Zweck vermochte ihm nur der Meister dasjenige zu geben, dessen er bedurfte, und tat es mit unermüdlicher Geduld, schon vor dem Beginn der allgemeinen Vorproben. Silbe für Silbe und Note für Note führte er ihn in seinen Part ein, und bildete ihn für seine große Aufgabe als Künstler und Darsteller völlig um.

Von seiner Tätigkeit bei solchem Studium gibt Hey, der vom 27. Juni ab diesem Studium beiwohnte, in einer eingehenden Schilderung1 ein lebhaftes Bild, bei dessen teilweiser Reproduktion wir ihm freilich die volle Verantwortung für alle in direkter Rede angeführten Aussprüche des Meisters überlassen müssen. ›Der 62jährige Wagner‹, heißt es in dieser Schilderung, ›machte in monatlangen Studien nicht nur jede Stelle des »Siegfried« in bezug auf Sinn und Stimmung, Gesangstechnik und Plastik der Sprachbehandlung dem Sänger klar, sondern legte auch Gewicht darauf, dessen ganze Gemütsverfassung zu beeinflussen. Er ermutigte ihn – trotz der vielen Mängel, die er rastlos abzustellen bemüht war – und versuchte sein ganzes Temperament umzustimmen. So sagte er einmal nach einer überaus anstrengenden, drei Stunden langen Probe mit ihm: »daß Sie abgerackert sind, ist ganz begreiflich. Im allgemeinen möchte ich aber wiederholen, was ich Ihnen schon am ersten Tag Ihres Hierseins sagte. Ihre ganze Lebensanschauung und was damit zusammenhängt, erscheint mir zu schwerfällig und schwarzgefärbt, sie muß eine heitere, sonnige werden. Aus dieser freudig schaffenden Empfindungssphäre dürfen Sie dann überhaupt nicht mehr heraus, sie muß die helle Tonart für alle Ihre Lebensäußerungen werden Kein trüber Mollakkord! Ein tatkräftiger Übermut muß Ihnen in allen Muskeln prickeln. Die frische urgesunde Lebensfreudigkeit Siegfrieds darf Ihnen niemals abhanden kommen! Denken Sie nur nicht, daß Lebensgepflogenheit und Bühnendarstellung zwei Dinge sind, die miteinander nichts zu schaffen haben. Nach meiner Erfahrung müssen sie beim darstellenden Künstler in möglichster Übereinstimmung anzutreffen sein!«‹ – Aus einer Probe des zweiten ›Siegfried‹-Aktes wird uns, ebenfalls in direkter Rede, folgende charakteristische Anweisung durch Hey [188] übermittelt. ›Versetzen Sie sich mit Ihrem ganzen Empfinden in die freundliche Landschaft, unter die trauliche Linde, vom lachenden Sonnenschein durchleuchtet, und versuchen Sie dann leicht und ausstrahlend, gleichsam Waldeswonne atmend, Ihre Stimme mit der Umgebung in Einklang zu bringen. Dabei vergessen Sie nicht, daß Sie durch die unmittelbare Frische des Vortrags sich zu Mimes Wesen und Stimmklang in einen scharf ausgeprägten Gegensatz bringen müssen. Das wird Sie veranlassen, immer auf eine sinnig anmutige, gänzlich unbehinderte Tongebung bedacht zu sein. Ihren unbesieglichen Widerwillen gegen Mime drücken Sie hingegen ungestüm, mit gereiztem Ärger und der allerschärfsten Deutlichkeit eines lebhaften Sprachgesanges aus! Das gibt Ihrem Vortrag ein festes, willenskräftiges Gepräge, und wird rückwirkend eine allgemeine Verbesserung Ihrer Textbehandlung zur Folge haben.‹

Möge immerhin die Wiedergabe des Wortlautes dieser aus dem Gedächtnis aufgezeichneten Ansprachen nicht immer völlig stichhaltig sein, so vergegenwärtigen sie uns doch die Art seines aufmunternden Verkehrs mit dem von ihm zu belehrenden Künstler, dem er vor allem zur geistigen Freiheit verhelfen wollte, indem er ihn von Grund aus umschuf. Aber auch ganze Szenen aus der gemeinsamen Arbeit dieser Studienzeit, nicht bloß vereinzelte Reden und Ansprachen, werden uns durch die Heysche Erzählung in scharfer Beleuchtung übermittelt. ›Unvergeßlich‹, so berichtet er, ›bleibt mir eine Probe des ersten »Siegfried«-Aktes! Wagner markierte dabei nicht bloß Mimes Stichwörter, sondern sang die Partie den ganzen Akt hindurch mit voller Stimme! Und wie sang er den »Schulmeister Mime«! Ungers gaumiger Gesang hörte sich gequält, farblos, ganz nebensächlich an, während der Vortragsmeister durch eine unvergleichlich charakteristische Ausdrucksweise (man vergesse nicht, daß er ein Stimmorgan im landläufigen Sinne gar nicht besaß!) ohne »Gangeln und Gehn« eine Gestalt schuf, von so scharfer, fest umrissener Ausprägung, wie sie von der Bühne herab vielleicht niemals erlebt werden wird!2 Dabei blieb er unausgesetzt darauf bedacht, Unger auf das von ihm Gewollte innerhalb der Siegfriedsrolle hinzuweisen, belehrend und anregend auf ihn einzuwirken. Von unmittelbarer Wirkung konnte das ja freilich nicht sein; aber immer überraschten uns im Verlauf der Probe Töne und Wortbildungen, die des Meisters Eingebungen deutlich erkennen ließen.‹ Weiterhin: ›Die Mime gewaltsam abgerungene Beantwortung (von Siegfrieds Frage nach seiner Herkunft) wurde zu einer künstlerischen Offenbarung des Wagnerschen Vortrags. Welche überraschende Einblicke in die Besonderheit seines dramatischen Schaffens! Als Sänger ohne Stimme, ließ er durch diesen Vortrag gleichwohl nicht den kleinsten Bruchteil des, dem Werke innewohnenden [189] dramatischen Ausdruckes unausgeschöpft in der Partitur zurück Klar und deutlich ließ sich aus dem zielbewußten Künsterwillen heraus der Entwickelungsgang des Kunstwerkes in seiner dramatischen Gliederung verfolgen. von der allgemein poetischen Empfindung bis zur musikdramatischen Vollendung, herausgewachsen aus der unzertrennlichen Einheit von Wort und Ton! Hier in dem kleinen, niedrigen Raum der Ziegelgasse‹ (Ungers Wohnung) ›enthüllte sich vor unseren Augen das blühende Wunder Wagnerschen Kunstschaffens, das durch Zimmerdecke und Dach bis in den Himmel zu wachsen schien!‹ Sehr hübsch wird ein kleines Mißgeschick geschildert, das dem Meister in der dritten Szene passierte: ›Rubinstein übertrug das erregte Orchester wundervoll. Wagner hatte sich links von ihm postiert und markierte auf dem Klavier die unheimliche Baßtuba. Vor Siegfrieds Einsatz: »Heda! du Fauler!« gab's ein lustiges Intermezzo. Bei Mimes zweitem angstvollen Ausruf »Fafner« schlug dem Meister auf dem hohen A die Stimme um, was eine äußerst komische Wirkung hervorrief. Er selbst lachte unbändig-Rubinstein brach ab –, wir drei übrigen lachten herzhaft mit. »Ein Ambos ist nicht da wohin soll ich mich verkriechen?« rief Wagner. Und während der junge Sänger bei dieser Probe bald völlig erschöpft war, war Wagner, trotz immer währenden Sprechens und Singens, frisch und stimmhaft geblieben, und dies mit zweiundsechzig Jahren!‹

Für den 1. Juli war der Beginn der Soloproben am Klavier angesetzt. am 1. August sollten dann die Proben mit Orchester ihren Anfang nehmen. Die erste Juliwoche war laut dem ursprünglich an die Künstler mitgeteilten Plan (vom 15./20. Januar, S. 162) für das ›Rheingold‹, die zweite für die ›Walküre‹, die dritte und vierte für ›Siegfried‹ und ›Götterdämmerung‹ bestimmt. Doch wurde diese Reihenfolge nicht in voller Strenge eingehalten, da ein Teil der Mitwirkenden erst im Laufe des Monats – Scaria z.B. erst am 15., Niemann erst gegen Ende Juli – kommen konnte, und es im wesentlichen Soloproben, daher von einander unabhängig waren. Um so mehr war ihm daran gelegen, diejenigen Sänger und Sängerinnen, für deren terminmäßiges Erscheinen kein Hindernis vorlag, rechtzeitig um sich zu sehen.3 So trafen denn die ersten Mitwirkenden, Hill und die Schwestern Lehmann, bereits am letzten Tage des Monats Juni ein. In der ersten Juliwoche bereits anwesend waren die Vertreter sämtlicher Hauptpartieen des ›Rheingold‹: Betz aus Berlin (Wotan), Vogl aus München (Loge), Hill aus Schwerin (Alberich), Schlosser aus München (Mime), v. Reichenberg aus Mannheim (Fafner), sowie die Sängerinnen Frau Sadler-Grün (Fricka) und die drei [190] Rheintöchter: Lilly und Marie Lehmann und Frl. Lammert; außerdem Frau Vogl (Sieglinde), Frau Materna (Brünnhilde); in der Folge auch Gura aus Leipzig (Gunther), Scaria aus Wien (Hagen), Frau Jaïde aus Darmstadt (Erda, Waltraute), Niering von ebendaher (Donner und Hunding), Eilers aus Koburg (Fasolt) und Weiß aus Breslau (Froh). Der Pianofortefabrikant Bösendorfer hatte zum Zweck der Proben zwei seiner trefflichsten Flügel nach Bayreuth geschickt. Die gemeinsamen Übungen in der Halle von Wahnfried dauerten vormittags von 1/211 bis 1/21 Uhr, und nachmittags von 1/26 Uhr ab, immer unter Anleitung Wagners; einer oder der andere der in der ›Nibelungenkanzlei‹ beschäftigten Musiker saß am Flügel und führte die Begleitung aus. Wiederum entfaltete hierbei der Meister die ihm so ganz eigene Kunst der Anleitung, durch welche seine Darsteller erst eine sichtbare und höhere Vorstellung, ein greifbares Bild der von ihnen darzustellenden Rollen erhielten. ›Er sprach, sang, mimte, wie der bühnengewandteste Schauspieler‹ (Hey). Das war er freilich von Grund aus; ohne diese Fähigkeit der mimischen ›Selbstentäußerung‹, des völligen Aufgehens in dem dargestellten Charakter konnte er nicht der schöpferische Dramatiker sein, der er war, in jedem Zuge der dichterischen und musikalischen Gestaltung seiner Werke. ›Seine zielbewußte Anleitung, die er suggerierend auf alle seine Darsteller gleichviel ob männliche oder weibliche Rollen – übertrug, war eben der Ausfluß, oder richtiger, der Zubehör seiner überströmenden Schaffensfülle, die Emanation seines künstlerischen Wesens überhaupt, das mit unfehlbarer Sicherheit sich der zutreffenden Ausdrucksmittel für die dramatische Darstellung bediente. Dabei waren alle seine Körperbewegungen, selbst im äußersten Affekt, vom sichersten Schönheitsgefühl beherrscht.‹4

Durch die Anwesenheit so zahlreicher ›Sangesgrößen‹ gestalteten sich die zweimal wöchentlich stattfindenden Empfangsabende in Wahnfried zu wahren Sängerfesten. Mit Hans Richter, der, sobald es ihm seine Wiener Verpflichtungen erlaubten, in Bayreuth eintraf, war Direktor Franz Jauner aus Wien gekommen, welcher den Meister in persönlicher Unterredung für mancherlei Pläne der Hofoper gewinnen wollte.5 Sein Besuch galt einerseits der seit einiger Zeit in Wien geplanten Aufführung von ›Tristan und Isolde‹. Wir kennen die Gründe, die den Meister dazu bestimmten, Wien zunächst keines seiner neuen Werke anzuvertrauen. Einerseits betraf dies die Wahrung seiner bisher in Wien sehr übel mißhandelten Eigentumsrechte in betreff seiner [191] älteren Werke. er hatte gegen die oberste Intendanz der Kaiserl. Theater gewisse, in das Gebiet der höheren Billigkeit und Gerechtigkeit einschlagende Ansprüche erhoben, deren Abweisung ihn in eine durchaus zurückhaltende Stellung gegen dieses Theater bringen mußte. Dieser Grund seiner Abneigung wurde nun endlich durch die Intervention Direktor Jauners aus dem Wege geräumt Andererseits war aber er über die dortige Besetzung seines ›Tristan‹ hinsichtlich der männlichen Hauptrolle immer noch voll unbeseitigter Bedenken, sowie er andererseits es nicht für wünschenswert hielt, daß Frau Materna während ihres Studiums der Brünnhilde auch noch mit der Partie der Isolde sich beschäftigen sollte (S. 146). Hingegen würde es ihn erfreut haben, mit dem als tüchtig befundenen Voglschen Künstlerpaar eine Wiener Aufführung zu veranstalten; aber nicht in Gestalt eines bloßen flüchtigen Gastspieles für einige Vorstellungen, sondern nach einem vorausgegangenen gründlichen Studium Einstweilen kam es an einem der Empfangsabende in Wahnfried zu einer Art ›Tristan‹-Probe, bei welcher er selbst zum Staunen aller mit anwesenden Künstler den Marke sang ›Woher er‹, so berichtet darüber Hey, ›diese, eigentlich mit halber Stimme gesungenen Töne nahm, wird immer ein Rätsel bleiben! Die rührende Klage des ins Herz getroffenen Freundes im Königsmantel! Wie kam diese Stimme, die eigentlich gar keine war, zu einer so ergreifenden Ton-Modulation, die jede wechselnde Empfindungsphase auf das eindringlichste klarlegte, – zustande gebracht mit einem Organ, das nicht einmal jenes substantielle Klangvermögen besitzt, das der Berufssänger als unerläßliches Ausdrucksmittel für seine Darstellung benötigt. Und doch eine Rezitation, die dem atemlos Lauschenden unmittelbar in die Seele drang! Ich möchte wohl wissen, ob Einem der im Kreise sitzenden Stimmgewaltigen die Frage nach dem eigentlichen Ursprung dieses tönenden Wunders kam, das wie eine vom Augenblick geborene Improvisation aus Wagners bewegtem Innern quoll Wer dachte bei diesem unvergleichlichen Vortrag noch an die Notenzeichen der Partitur? Diese dienten, so schien es, nur dazu, die Uferlinien anzudeuten, in welche der Stimmungsgehalt der Tondichtung sich unmittelbar ergoß, um zu einem Strom höchster dramatischer Wirkung anzuschwellen.‹

Wie Direktor Jauner aus Wien, so traf bald darauf auch aus Berlin Herr v. Hülsen als Gast in Bayreuth ein, um persönlich die entsprechenden Vereinbarungen für die von der Kgl. preußischen Hofoper in Aussicht genommene Inszenesetzung des ›Tristan‹ zu treffen und den Meister zur Leitung seines Werkes bei der ersten Aufführung einzuladen. So geschah es, daß die Leiter der zwei – ihrer Stellung nach – ersten Kunstinstitute, des Berliner und des Wiener Hofoperntheaters, zu den Bayreuther Proben erschienen, als hätten sie wirklich ein Bewußtsein von der Größe und Bedeutung des Unternehmens, wovon doch wenigstens Herr v. Hülsen himmelweit entfernt war! Um dieselbe Zeit wurde dem Meister durch die Probestellung verschiedener [192] Dekorationen, insbesondere des ›Rheingold‹ eine erfreuliche Überraschung zuteil: der künstlerische Effekt ließ nichts zu wünschen übrig, bei einigen war er von zauberischer Schönheit. Aus diesen Tagen bieten die Aufzeichnungen von Gustav Kietz einige Momentbilder. Er war, nach seiner Angabe, am 24. Juli in Bayreuth eingetroffen und wurde alsbald durch Seidel und Runkwitz benachrichtigt, Wagner würde gegen 4 Uhr nach dem Festspielhause kommen, um die aufgestellten Dekorationen zu besichtigen. Er begab sich demgemäß auf den Festspielhügel und ließ sich von dem anwesenden Brandt das Innere des Hauses in all seinen Räumen zeigen. ›Dann ging ich ins Freie, um Wagner zu erwarten und hatte wieder meine innige Freude über die reizvoll schöne Umgebung und die Wahl des Platzes für das Festspielhaus. Es konnte wohl nichts Günstigeres gefunden werden; schon die Lage der neuen Kunststätte macht auf jeden einen weltentrückenden, weihevollen Eindruck. Endlich kam Wagner mit seiner Familie angefahren. Er langte schon von weitem, als er mich sah, die Hände aus dem Wagen und begrüßte mich aufs herzlichste; ebenso Frau Cosima. Ich ging mit Wagner und Brandt von dem hinteren Eingang über die Bühne. Das sämtliche Sängerpersonal saß im Zuschauerraum; auch Herr v. Hülsen, eine höchst aristokratische Erscheinung, hatte sich eingestellt und wurde von Wagner und Frau Cosima höchst zeremoniell begrüßt. Dann wurden neu angekommene Dekorationen zu verschiedenen Szenen aufgestellt: zuerst das Innere der Behausung Hundings. Als die hintere Tür aufsprang, sah man in eine wundervolle Frühlingslandschaft mit See, in welchem sich der Mond spiegelte. Später wurde eine noch nicht ganz vollständige Dekoration zum »Rheingold« probiert. Nachdem Wagner seine Befriedigung ausgesprochen, klatschte er in die Hände und rief den Sängerinnen zu: »Nun, Kinder, geht einmal hinüber und laßt etwas hören!« Die Damen sprangen über den (das Orchester überbrückenden) Brettersteg auf die Bühne und sangen den Gesang der Rheintöchter, Alberich unsichtbar mit. Die Wirkung war wundervoll; Wagner und alle Sänger waren über die Klangwirkung im Hause höchst erfreut. Es war der erste Gesang, der im Festspielhause ertönte.‹6

Um 8 Uhr abends folgte Kietz einer Einladung zu einem Empfangsabend in Wahnfried. ›Die glänzend erleuchteten Räume, die ich nur im Rohbau kennen gelernt und nun zum erstenmal in ihrer, mit höchstem, feinstem Geschmack in Form und Farbe gewählten, künstlerischen und dabei so behaglichen Ausstattung wiedersah, machten einen durchaus harmonischen Eindruck. Die Sänger und Sängerinnen waren fast alle versammelt. Wagner war in seiner liebenswürdigsten Stimmung, in welcher er jeden unwiderstehlich bezauberte. Noch spät abends mußte Rubinstein den Sänger Unger holen, weil man die [193] Szene zwischen Siegfried und den Rheintöchtern aus dem dritten Akte der Götterdämmerung vornehmen wollte. Der Gesang mit der herrlichen Begleitung Rubinsteins machte eine entzückende Wirkung, Wagner selbst applaudierte am Schluß‹. Beim Abschied erhielt Kietz noch die Einladung zu den täglichen Vormittagsstudien in Wahnfried: ›Kommen Sie jeden Vormittag um 11 Uhr hierher, lieber Kietz, da studiere ich ein und halte Probe, Sie stören mich nie!‹ – Am andern Morgen (25. Juli) stellte er sich pünktlichst in Wahnfried ein. ›Frau Materna, eine prächtige Erscheinung und in ihrem Wesen höchst liebenswürdig und voller Leben, und Hans Richter waren schon eingetroffen. Es war mir eine besondere Freude, Richter näher kennen zu lernen. Er stand allem, was sich hier zu einer höchsten künstlerischen Tat vorbereitete, mit heiligem Ernst gegenüber; man fühlte, trotz seiner schlichten anspruchslosen Weise, überall den hochbegabten Künstler heraus. Er saß, mit der großen Partitur auf dem Knie, zur Probe bereit und ich setzte mich zu ihm, um mit nachzulesen. Als ich ihm bemerkte, Frau Materna habe sich wohl schon ganz in ihre Rolle eingelebt, antwortete er mir lächelnd: »Die? – Ach, die hat jetzt noch keine Ahnung davon; aber wenn sie erst einmal erfaßt hat, was sie darstellen soll, dann werden Sie staunen.« Da kam Wagner herein, begrüßte uns, und Rubinstein setzte sich an den Flügel Frau Materna nahm ihre Rolle und fing an zu singen. »Halt!« rief Wagner, »Kindchen, so geht das nicht Jetzt geben Sie acht, ich will Ihnen einmal erzählen, was Sie mit Ihrem Gesang zum Ausdruck bringen sollen.« Nun stand er auf und entwarf ein Bild der ganzen Szene, aber so, daß die Augen der Materna immer staunender und verständnisvoller an ihm hafteten. Und als er geendet hatte und Rubinstein nun auf dem Flügel die Begleitung anschlug, da erfüllten Töne den Raum, so voller Innigkeit und Schönheit, daß man sofort wußte. jetzt hat die große Künstlerin ihre Rolle begriffen. – So habe ich später Frau Vogl (Sieglinde), Hill (Alberich), Unger (Siegfried), Lilly Lehmann (Rheintochter) gehört‹ etc. etc.7

In gleicher schlicht ansprechender Weise weiß der vortreffliche Erzähler uns das Bayreuth dieses Sommers, mit seinen Proben und Studien, den Empfangsabenden, den fortgesetzten nachmittaglichen Dekorationsproben, und selbst dem bunten Treiben auf Straßen und Plätzen und bei ›Angermann‹ zu schildern. ›Was ist das jetzt für ein Leben hier‹, ruft er am 29. Juli, ›man erkennt das Bayreuth von 1873 kaum wieder! Die damals so stillen, vornehmen Straßen der kleinen ehemaligen Residenz sind belebt und voll Unruhe. Bei Angermann, in dem langen schmalen Raume, den »Katakomben«, wie er von den Künstlern getauft worden ist, herrscht oft das lustigste Durcheinander. Da habe ich das Ehepaar Vogl, Betz, Gura, Fricke (Balletmeister [194] aus Dessau) und alle anderen, an den Proben Beteiligten kennen gelernt. Nach den Proben im Theater kommt Alles in den Katakomben zusammen: von dort führt der Weg in den Wahnfried zu gastlicher Aufnahme, wo man auch alle die Fremden trifft, die sich zu den Proben eingefunden haben: Frau Minister v. Schleinitz usw., vor allen Liszt. Frau Cosima stellte mich ihrem Vater vor; ich unterhielt mich darauf längere Zeit mit ihm. Er ist der voll ständige Gegensatz zu Wagner: an Wagner ist alles voll Leben und fortreißend, an Liszt alles von ruhiger, aber sehr wohltuender Vornehmheit. Wir gingen dann mit Frau Cosima in die Halle, wo ihre und Wagners Marmorbüsten aufgestellt sind und ich war sehr erfreut, daß Liszt mit beiden Arbeiten in Auffassung und Ausführung ganz einverstanden war. An Frau Cosima kommt man jetzt schwer heran, sie ist stets von einem dichten Kranz von Damen umgeben. Nach 10 Uhr entfernt sich gewöhnlich die Gesellschaft und sucht zum Schluß die Katakomben nochmals auf.‹

Liszt war an eben demselben Tage, direkt von Weimar aus, eingetroffen, wo in den Tagen vom 14 bis 18. Juni, unter der Mitwirkung des Voglschen Paares, zwei Aufführungen von ›Tristan und Isolde‹ stattgefunden hatten: zwischen beiden eine Trauerfeierlichkeit, eine Gedächtnisfeier zu Ehren der, vor einem Jahre verstorbenen Gräfin Marie Muchanoff, für welche Liszt selbst eine Komposition verfaßt hatte.8 Dem Meister selbst war es unmöglich gewesen, sich dazu aus seiner vorbereiten den Tätigkeit herauszureißen; aber seine Gemahlin war der Einladung Liszts, zugleich mit Frau v. Schleinitz, gefolgt. Nun gab es ein Wiedersehen unter den bedeutungsvollsten, einzig dastehenden Eindrücken eines kunstgeschichtlichen Vorganges von höchster Bedeutung. ›Man mag sagen, was man will‹, schreibt darüber Liszt an die Fürstin, ›Bayreuth ist gegenwärtig der Brennpunkt der Kunst in Deutschland; man kann sich darüber nicht täuschen. Die Gegner werden sich allmählich eines Besseren zu besinnen haben, es sei denn, daß sie starrköpfig bei ihrem Unvermögen beharren, etwas anderes hervorzubringen, als »geistreiche« (?) Phrasen. Der neue Direktor des Wiener Hofoperntheaters, Jauner, war hier; beifolgend sein Artikel in der »Neuen freien Presse«.9 Noch mehr, Herr v. Hülsen, der Intendant des Berliner Theaters, hat neuerdings einen Besuch bei Wagner gemacht, nachdem seine persönlichen Beziehungen zu diesem bis zu diesem Augenblick [195] auffallend gehinkt haben.10 Frau v. Schleinitz ist vorgestern angekommen und hat‹ (mit ihrem Gemahl) ›im Schlosse Wohnung genommen, was in der Stadt einiges Aufsehen erregt, da dasselbe seit einer Reihe von Jahren unbewohnt war. Mme. Minghetti und ihre Tochter, Frau v. Dönhoff, haben sich noch auf ihrem Landaufenthalte in der Nähe von Salzburg verzögert.‹11

Zu einem recht unangenehmen Zwischenfall gestaltete sich die kurze Anwesenheit Niemanns. ›Gestern‹, so berichtet Kietz, ›waren viele von der (bei Angermann versammelten) Gesellschaft auf den Bahnhof gegangen, um Niemann zu erwarten und zu begrüßen. Er benahm sich nicht gerade sehr liebenswürdig, als er erschien: er setzte sich neben mich und grüßte, nahm aber, außer von dem Voglschen Ehepaar, keine Notiz von den Anwesenden. Dann schimpfte er ganz laut über die Zumutung, aus dem schönen Baden-Baden (!) in dieses öde, kalte Nest reisen zu müssen. Es dauerte auch nicht lange, so kam durch seine rücksichtslose Art eine trübe Stimmung über Bayreuth.‹ Inmitten der begeisterten Künstlerschar war er tatsächlich der einzige ›Aufwiegler‹. An einem Abend, als alle Künstler in Wahnfried versammelt waren, habe er sich sichtlich gelangweilt gezeigt, plötzlich habe er mit den Worten: ›auf nach Valencia!‹ einige von ihnen unter den Arm genommen und sei mit ihnen in die ›Kneipe‹, zu Angermann gegangen. Woher diese rätselhafte Erscheinung? Hatte der begabte Mann, vielleicht in einer Anwandelung gekränkter persönlicher Eitelkeit, einen Rückfall in seine längst überwundenen Pariser Schwächen, die er mit so ostensiblen Bezeigungen einer unbedingten Ehrerbietung für den aufrichtig bewunderten und geliebten Meister abgeschworen? Man sollte es glauben, und würde doch in dieser Annahme irren. Er handelte aus seiner Natur heraus, aus derselben Natur, die im folgenden Jahr die wundervolle, für alle Zeit typisch gewordene Darstellung seines Siegmund ermöglichte. Diese geniale Veranlagung hatte eine Beschränkung: er konnte durch fremde Unterweisung, selbst die des Meisters, nichts lernen; nichts konnte bei ihm von außen her kommen, er konnte alles nur aus sich herausbringen. Der ganze umfassende Probenapparat, die hohe Schule des Bayreuther Stiles, war nichts für ihn, es störte ihn nur. Das brach an jenem Abende aus, und aus jenem Gange zu Angermann, in seltsamer innerer Überreiztheit, entwickelte sich das Übrige.12 Er war am folgenden Tage heiser, vertrug es nicht, daß ihm dies vorgehalten wurde, und reiste ohne Abschied auf und davon, – unter Zurücksendung seiner Partie. Für das ringsum [196] lauernde Übelwollen war ein willkommener Stoff zu übler Nachrede gegeben, mit Begierde wurde dieser allseitig ergriffen und ausgenutzt. Der Vorfall trug sich am 30. Juli zu, zwei Tage nach seiner Ankunft. ›Durch die plötzliche Abreise Niemanns, der durch sein Benehmen viel Mißfallen erregt hat,‹ berichtet Kietz in seinen gleichzeitigen Nachrichten, ›ist eine sehr ernste Stimmung eingetreten. Am Nachmittag wurden im Theater wieder neue Dekorationen aufgestellt und probiert. Am Abend waren die Herren Professor Hey und Karl Hill die einzigen, die mich nach Wahnfried begleiten wollten; selbst Rubinstein, sonst täglich dort anzutreffen, fürchtete sich vor Wagners Verstimmung. Wir trafen nur Liszt an; es wurde aber trotz dem über allen Anwesenden lagernden Ernst ein unvergeßlich schöner Abend. Liszt spielte aus einem späteren Werke Beethovens. Wagner war sehr still; man sah ihm an, daß er litt. Da bat er plötzlich Liszt, ihm das Adagio aus der B dur-Symphonie vorzuspielen, von Liszt selbst für Klavier arrangiert. Das war nun etwas so Ergreifendes, himmlisch Schönes, daß es über alles Widerwärtige hinweghob und uns aus dem drückenden Banne befreite. Hierauf sang Hill noch einige sehr schöne Lieder von Liszt, von diesem selbst dazu begleitet. Als wir uns von Frau Cosima und Liszt verabschiedet hatten, begleitete uns Wagner hinaus, sprach über die ärgerlichen Zwischenfälle mit großem Bedauern und schloß mit den Worten: »Niemann ist der Einzige, der den Ernst unserer Sache nicht begriffen hat.« – Als ich meine Befürchtung, daß bei der Aufführung ein Anderer für Niemann die Rolle des Siegmund übernehmen müßte, gegen Hans Richter aussprach, sagte er: »Da brauchen Sie keine Sorge zu haben, zur Aufführung ist er wieder hier.«‹13

Mit Beginn des August begannen die Orchester-und Gesamtproben im Festspieltheater. Schon im Verlauf der letzten Juliwoche und besonders mit den Bahnzügen des 31. waren die Musiker aus Wien, Berlin, Breslau, Hannover, München, Mannheim, Braunschweig, Salzburg, Weimar, Darmstadt, Meiningen, Koburg usw. eingetroffen. Zur Einweisung und zum Geleit in ihre Quartiere war das Wohnungskomitee, außerdem meist die Quartiergeber selbst und eine Anzahl Turner am Bahnhof versammelt. Die Kgl. Kapelle aus Berlin hatte mit Genehmigung der Generalintendanz allein 26 Kammermusiker gestellt, denen trotz bereits erfolgter Eröffnung der Saison bereitwillig Urlaub erteilt war.14 Aus München waren 7 Hofmusiker gekommen, [197] darunter Tombo (Harfe), Thoms (Bratsche) usw., leider nicht der (noch am 8. Juni eigens erbetene) Kontrabaß-Tubenbläser. Ferner waren erschienen August Wilhelmj und Fleischhauer aus Meiningen (Violine); der Oboist Vitzthum aus Hannover, der Trompeter Kühnert aus Lugano, lauter auserlesene Kräfte im vollsten Sinne des Wortes; im ganzen über 100 Mann: 32 Violinen, mit Wilhelmj als Vorgeiger, 12 Bratschen, 12 Celli, 8 Baßgeigen, 6 Harfen usw. usw.

Am Sonntag, den 1. August, gab der Meister seinen Sängern und Sängerinnen in der Halle von Wahnfried ein Diner, in dessen schöne Harmonie kein Mißklang sich einmischte. ›Wagner hat‹, so erzählt Kietz, ›so herzergreifend dabei gesprochen, daß die Damen alle geweint haben.‹ Auch Liszt ergriff das Wort, und der Bassist Eilers aus Koburg (Fasolt) brachte den Trinkspruch auf des Meisters Gemahlin aus. Die ganze Stimmung war eine gehobene, würdig des großen Werkes, um dessen Verwirklichung es sich handelte. Am Montag den 2. August begann die erste Probe im Festspielhause programmäßig mit der ersten und zweiten Szene des ›Rheingold.‹ Am Vormittag war das Orchester zusammengestellt und eingestimmt. Die Geigen erhielten ihren Platz rechts und links vom Dirigentenpult, an welchem Hans Richter seiner Funktionen waltete. Zum erstenmal empfingen die Instrumente nach des Meisters Weisungen diejenige Anordnung und Aufstellung, in welcher sie bis heute ihre wunderbare Klangwirkung ausüben: die Saiteninstrumente [198] unterhalb des oberen Schalldeckels, die Holzblasinstrumente und Harfen unterhalb der Öffnung, so daß ihre zarten Töne direkt aufstiegen, während die Blech- und Schlaginstrumente bereits unter dem Vorsprung der Bühne ihren Platz fanden, wodurch ihnen, bei voller Wahrung der Klangfarbe, die materielle Wucht des Schalles benommen war. Der Gewinn davon war, daß alle Nebengeräusche der einzelnen Instrumente verschwanden, der Klang eines jeden einzelnen sich verklärte und Alles zu dem herrlichsten Einklang verschmolz. Die Tonwellen drangen so von unten nach oben, ohne daß das Orchester Gefahr lief die Sänger zu übertönen, auch wenn sich im Hörerraume der Klang zu großartigster, imponierender Macht und Fülle entwickelte Gegen 5 Uhr kam der Meister mit seiner Familie vor dem Theater an. Als er mit seiner Gemahlin und Liszt den Raum betrat, intonierte das Orchester zu seiner Begrüßung das Walhallmotiv und Betz sang ihm die Worte Wotans entgegen:


›Vollendet das ewige Werk: auf Bergesgipfel die Götterburg!

prachtvoll prahlt der prangende Bau!

Wie im Traum ich ihn trug, wie mein Wille ihn wies,

stark und schön steht er zur Schau: hehrer, herrlicher Bau!‹


Dann wurde ihm aus dem Orchester ein begeistertes dreimaliges Hoch mit obligatem Tusch gebracht Tief ergriffen durch die Feierlichkeit des Momentes begab er sich in das Orchester und hieß seinerseits die Musiker willkommen, indem er ihnen in warmen Worten für ihr pünktliches und voll zähliges Erscheinen dankte. Er sagte unter anderem: ›die Meinungen über unsere große Aufgabe werden wohl sehr verschieden sein, aber ich glaube, davon wird wohl jeder Mitwirkende durchdrungen sein, daß es sich hier um ein Kunstwerk von hoher Bedeutung und nicht um ein Schwindelwerk handelt.‹ Dann ging er über den Brettersteg auf die Bühne zu seinem Tischchen hart am Orchester, auf welchem die Partitur an einer Kiste lehnte, auf der die Petroleumlampe stand. Hans Richter dirigierte, der Meister las in der Partitur nach, immer zugleich den Dirigenten und jeden Vorgang auf der Szene im Auge behaltend. ›Es war nun merkwürdig: wenn er im ruhigsten Tone zum Orchester sprach, um den Musikern klar zu machen, wie er diese oder jene Partie aufgefaßt wissen wollte, so verstand man es im ganzen Zuschauerraum.‹15 So äußerte er sich denn auch selbst bei dieser Probe höchst befriedigt gerade mit der Akustik des Hauses: ›Das ist es, was ich wollte; jetzt klingen die Blechinstrumente nicht mehr so roh.‹

Es fand nun fast volle 14 Tage (2. bis 12. August) hindurch an jedem Vor- und Nachmittage eine zweistündige Gesamtprobe statt: morgens von 10 Uhr ab Leseprobe für das Orchester allein, und zwar in jeder Probe ein [199] Akt; nachmittags derselbe Akt noch einmal mit den Sängern und Sängerinnen Einzelproben für Streicher und Bläser allein, wie im folgenden Jahr, kamen nicht vor, Alles wurde gleich im ganzen durchgenommen. Das Ziel war: allen Mitwirkenden den Gesamtinhalt des ganzen Dramenzyklus erstmalig sicher und lebendig zum Bewußtsein zu bringen. ›Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, schlug er einen von dem gewohnten verschiedenen Weg ein; er verfolgte die Methode: nicht von dem Einzelnen ins Ganze fortzugehen, sondern umgekehrt, erst das Ganze, mit Hintansetzung der Durchbildung und Ausarbeitung aller Details, in großen Umrissen hervortreten zu lassen. Auf diese Art kam sofort etwas relativ Fertiges zur Erscheinung; man konnte, um einen naheliegenden Vergleich mit der bildenden Kunst zu machen, sagen: das Modell stehe jetzt da, die Skizze liege vor, nach der nun das Kunstwerk in aller Vollendung ausgeführt werden sollte.‹16

Die ursprüngliche Bestimmung, daß außer den Beteiligten der Zutritt zu den Proben Niemand gestattet sei, wurde alsbald fallen gelassen.17 Waren doch die Interessenten für das Kunstwerk, wie für den Künstler, die Angehörigen der Mitwirkenden und sonst der Sache Nahestehende von überallher zusammengeströmt, aus Berlin, München, Leipzig, Heidelberg, Tübingen, der Schweiz, Brüssel, London, ja selbst aus Chicago.18 Alle Hotels und disponibeln Privatwohnungen waren in Beschlag genommen, und wer ein kaum befriedigendes Hinter- oder Dachzimmer erlangt hatte, hielt es unerbittlich fest. Selbst in dem eine gute Stunde von der Stadt entfernten Hotel Fantaisie hatten Fremde ein Obdach suchen müssen. Ins besondere zu den Nachmittagsproben war daher jedesmal ein Auditorium von mehreren hundert Personen anwesend. Patrone der Festspiele, ältere und jüngere Musikbeflissene, die während der Vorführung eifrig die Partitur studierten, Künstler und Gelehrte, ferner Mitglieder der städtischen Kollegien, des Wagner-Vereins, des Musikdilettantenvereins und des Liederkranzes, die Quartiergeber u.s.w. ›Auch Damen aus den distinguiertesten Kreisen unserer großen Städte‹, heißt es in einer gleichzeitigen Schilderung19, ›gehörten zu der Korona, [200] die in den vordersten Reihen des gewaltigen Amphitheaters sich täglich bildete und durch immer neuen Zuwachs neue und interessantere Physiognomie annahm. Etwa 80 Sitzplätze waren hergestellt worden‹ (hier saßen Liszt, die Gemahlin des Meisters, Frau v. Schleinitz und die von Wagner selbst eingeladenen Personen), ›die übrigen Zuhörer mußten stehen oder auf den Stufen des Amphitheaters oder auf Balken, Kisten, zusammengelegten Überziehern, Plaids und Umschlagetüchern es sich so bequem als möglich zu machen suchen. Es war in dem Halbdunkel ein höchst interessantes Bild. Aber Keiner von den vielen Hunderten, die in jeder Probe zugegen, wurde müde, sie hielten alle aus und es war ein Aufmerken, wie es mir in meiner langen Erinnerung in Proben nicht annähernd vorgekommen. Gerade im wiederholten Durchmachen dieser äußeren Beschwerlichkeiten, in der lautlosen Stille der immerhin großen Versammlung zeigte sich der Respekt vor dem kühnen Unternehmen Wagners, der sich durch keine Gegnerschaft von einem Vorhaben abbringen ließ, das seinem ernsten und jedem Hindernis trotzendem Wollen entsprungen ist. Es gehört die ganze eiserne Festigkeit eines unbeugsamen Willens dazu, nach langen Jahren schwerster Arbeit und Kämpfe einen Riesenbau originellster Art so hingestellt zu haben. Die äußere Architektur und die projektierte innere Herrichtung ist eine überaus einfache, schmuck- und prunklose; aber daß ein zweites Theater in betreff des Stimm- und Orchesterklanges, sowie in der Vermischung beider, diesem gleich – nicht existiert, das bewiesen diese Proben in ganz überraschender Weise. Auf der großen Bühne ganz im Vordergrunde, an der Stelle wo sonst der Souffleur sein vorlautes Wort spricht, hatte Richard Wagner an einem, von einer grünbeschirmten Petroleumlampe beleuchtetem Tische mit einer Art Notenpult, auf dem die Partitur lag, Platz genommen.20 Von hier aus beherrschte er, bald als Regisseur, bald als Dirigent, die unterirdischen Massen des dem Publikum unsichtbar gemachten Orchesters und die auf der Bühne ihren Part größtenteils schon auswendig rezitierenden Sänger und Sängerinnen. Es war von allerhöchstem Interesse, den geistreichen, witzigen, scharfbezeichnenden Bemerkungen des Meisters zu folgen, in seinem lebendigen Mienenspiel den ganzen Hergang und das überaus kunstvolle Gewebe seines merkwürdigen Werkes zu lesen. Ihm gegenüber, in der Mitte des Orchesters, nur den auf der Bühne Mitwirkenden, nicht den im Zuschauerraum Befindlichen sichtbar, hatte der Kapellmeister Richter aus Wien auf einer Erhöhung seinen Sitz. Hans Richter, ein noch junger Mann, ist ein Universalgenie, das alle Instrumente spielt, sie mögen Kontrafagott oder Bratsche, Hoboë oder Baßtuba, Pauke oder Violine heißen.21 Er ist in[201] Wahrheit ein musikalischer Polyglotte, und zählt zu den berufensten Dirigenten, der die verwickeltste Rhythmik und eine vielgegliederte Instrumentation, wie die Wagnersche, mit einer fast unglaublichen Umsicht beherrscht. Seine Korrekturproben, die täglich in den Vormittagsstunden von 10 bis etwas nach 12 Uhr stattfanden, waren von einer wunderbaren Intuition geleitet; daher auch die bei einem so schwierigen Ensemble schnelle Erledigung derselben. Ihm zur Seite standen die berühmten Künstler August Wilhelmj (Violine) und Konzertmeister Grützmacher (Violoncell) als Konzertmeister. Das Orchester zählte 108 Musiker, alle Meister ihres Instrumentes, die auf den Ruf Wagners aus den verschiedensten Städten Deutschlands erschienen waren und mit täglich erneutem frischem Mute, ja mit Enthusiasmus den langen Weg zur Probe machten. – Daß nun, wo in so intensiver Tätigkeit und Ausdauer, mit solchem Ernste täglich zwei Proben gehalten, und ebenso oft von der großen Fremdenzahl mit gespannter Aufmerksamkeit derselben gefolgt ward, in der freien Zeit der Humor sich Bahn brach, war nur ein beredtes Zeichen für das Behagen aller Beteiligten. So zeigten die dicht besetzten langen Tafeln sämtlicher Hotels, trotz der draußen herrschenden tropischen Glut, ein überaus buntes und reges Leben, eine solche Frische und Lebendigkeit der Unterhaltung, daß es schwer fallen dürfte, hier die belebteste Versammlung zu bezeichnen. Den Herren jedoch werden die ungezwungenen Abende bei Angermann, der das köstliche Bier von Weihen-Stephan aus unerschöpfter Fülle zu schenken schien, noch lange in guter Erinnerung bleiben. – Bei dem fühlbaren Wagenmangel, dem ziemlich weiten, bergansteigendem Wege zum Theater, zumal bei hochstehender Sonne, durfte es nicht auffallen, daß eines Tages die vorhandene Wagenreihe durch ein langsamer wandelndes Gespann unterbrochen war, das sonst in einem solchen Zuge wohl noch niemals gesehen worden ist. Es war dies ein mit mächtigen Ochsen bespannter Leiterwagen, der keine geringeren Persönlichkeiten geladen hatte, als Wilhelmj, Brassin und die beiden Kapellmeister Eckert und Richter, ersterer auf der schweren Kette mehr balancierend als sitzend. Ebenso heiter ging es nach absolvierter Probe in der, den Bauarbeiten gehörenden Bretterbude in unmittelbarer Nähe des Theaters zu. Hier pflegte sich eine Elite zu versammeln, um sich an einem trefflichen Salate zu laben, dessen Zubereitung Betz leitete, während Kapellmeister Richter auf einem Kontrafagott dazu blies. – – So flossen die Tage dahin, im höchsten Ernst eines künstlerischen Studiums und im Scherze, der sich jenem so gern gesellt, und hier stets in den Grenzen des Erlaubten sich bewegte. Kein Mißton störte die vollkommene Harmonie des Eindruckes, welchen, lange nachwirkend, [202] ein jeder der Beteiligten, sowie die tausende von Zuhörern mit sich in die Heimat trugen‹. In Ergänzung dieses letzteren Satzes fügt der während der ganzen Probenzeit mit anwesende Heckel allerdings noch eine Betrachtung hinzu, zum Beweise dessen, in wie hohem Maße es dem Meister gegeben war, durch das Beispiel eigener Hingebung und Beharrlichkeit jede etwa drohende üble Stimmung im Entstehen zu unterdrücken und die ganze Körperschaft mit dem Geiste einer freien Kunstausübung zu durchdringen, in welcher doch die volle Freiheit nur durch freiwillige Unterordnung und ein Sicheinfügen in das Ganze zu erreichen war.

›Erfordert schon‹, so lautet diese aus den unmittelbaren täglichen Eindrücken geschöpfte Wahrnehmung, ›unter den gewöhnlichen Theaterverhältnissen der Verkehr mit den darstellenden Künstlern ein einsichtiges Verständnis für ihre rasche Erregbarkeit, so war hier, wo so unendlich viel von dem guten Willen des Einzelnen abhing, erhöhte Vorsicht geboten, um auch ohne drakonische Theatergesetze ein harmonisches Zusammenwirken zu ermöglichen. Jeder Mangel an Einsicht, jede pedantische Auslegung von Worten, welche ohne Überlegung nur einem spontanen Gefühle entsprangen, hätten hier zu verhängnisvollen Wirrsalen geführt. Die außerordentliche Eigenart des Unternehmens, dem sich so gar nicht in gewohnter Weise gegenübertreten ließ, barg an sich schon eine Menge Keime zu rasch wuchernden Mißverständnissen. Da an der sofortigen Klärung jeder unerwarteten Trübung oft unendlich viel gelegen war, begab ich mich täglich in aller Frühe in das Bureau des Verwaltungsrates bei Bankier Feustel, unterrichtete mich über alle Vorfälle und suchte dann Wagner auf. Ich traf ihn meist noch im Garten an, wo er mit seiner Frau und Liszt den Kaffee nahm. Die erste Frage lautete gewöhnlich: »Will niemand abreisen?!« Denn die Drohung »sofort abzureisen« kehrte als Refrain bei allen Auseinandersetzungen der Unzufriedenen wieder. Mit nicht hoch genug zu schätzender Aufopferung war Frau Wagner bestrebt, im Verkehr mit den Künstlern die Erledigung unangenehmer Mitteilungen an Stelle des Meisters zu übernehmen Jeden Abend von 8 bis 10 Uhr war gesellige Unterhaltung in Wahnfried. Wagner fühlte sich wohl und heimisch im Kreise seiner Künstler und Freunde. Vor Abend pflegte er meist bei »Angermann« einzukehren. Es war nicht nur Erholung, welche er hier im Kreise seiner Künstler suchte: es lag ihm daran mit ihnen in persönlicher Beziehung zu bleiben; sie sollten ihn und seine künstlerischen Zwecke kennen und verstehen. Die Abende in Wahnfried, welche einen mehr gesellschaftlichen Charakter annahmen, konnten dem ungenierten gegenseitigen Aussprechen nicht so sehr dienen, als dieser ungezwungene heitere Verkehr bei Angermann. Das damals sehr einfache Haus kam durch ihn zu einer Weltberühmtheit. Sehr oft herrschte im persönlichen Verkehr zwischen dem Meister und seinen Künstlern heitere Ausgelassenheit. Immer war er bestrebt bei den Mühen, welche der [203] ungewohnte Stil seines Werkes vielen bereitete, dieselben bei Humor zu erhalten und die Gemeinsamkeit der Arbeit und des Zieles zu betonen. Er verstand es in höchstem Grade, auf jede künstlerische Individualität einzugehen. So wenig er sich gegenüber der Opernschablone und dem sinnlosen Theaterschlendrian zu irgend welchen Zugeständnissen bequemte, so sehr war er darauf bedacht, daß jeder Darsteller seine Aufgabe auf seine eigene Art löse. Daß trotzdem nicht der einheitliche Stil der Aufführung litt, indem Launen oder Absonderlichkeiten sich breit machten, dafür sorgte der schöpferische Zauber, der von ihm ausging, und seine Genialität als Szeniker. Genügten doch schon wenige charakteristische Andeutungen, um individuell veranlagte Künstler zu selbständiger organischer Gestaltung im Geist seines Werkes anzuregen‹.22 Bei aller angestrengten Tätigkeit des gesamten künstlerischen Personales schloß demnach ein andauernder, immer wieder aus dem Quell des Humors neu belebter und gesättigter Ernst, im Verein mit einer durch das eigene Beispiel des Meisters stets neu angefachten Begeisterung aller Mitwirkenden, auch den entferntesten Schein der Erschlaffung oder der Unlust aus.

Demgemäß konnte der Probenplan auf das Genaueste eingehalten werden; ja, es ergab sich am Ende noch ein Überschuß an Zeit. Die Proben waren, was Gesang und Orchesterleistungen anbetraf, schon ziemlich glatte Aufführungen. Sänger und Sängerinnen markierten wenig oder gar nicht, sondern entfalteten bereits ihre vollen Stimmittel. Das Orchester spielte wie aus einem Guß und malte die – einstweilen der Phantasie des Zuschauers zur Ergänzung überlassene – Aktion in so vorzüglicher Weise, daß Wagner selbst wiederholt in laute Anerkennung ausbrach. Nach Erledigung des ›Rheingold‹ (am 1. und 2. August, zu je zwei Szenen), kam am Mittwoch den 4. der erste Akt der ›Walküre‹ daran, mit Vogl als Siegmund, an Stelle Niemanns, der sich selber von der Mitwirkung ausgeschlossen. Am 5. zweiter Akt der ›Walküre‹, am 6. der dritte Akt. Die Szene der Walküren, von acht vorzüglichen Sängerinnen mit außerordentlicher Lust und Leichtigkeit vorgetragen, zündete derart, daß das versammelte Publikum, bisher lautlos aufmerkend, seinen Beifall nicht länger zurückhielt. Ein gleicher Ausbruch des Entzückens nach der letzten Szene, dem großartigen, durch Betz und Frau Materna ganz im Geiste der Dichtung wiedergegebenen Abschiede Wotans. Auch das Orchester war, besonders im Walkürenritt und im Feuerzauber untadelig, wenn schon die spezifischen Feinheiten des Ausdruckes vorläufig noch ausblieben. Am Ende des Aktes kannte die Begeisterung keine Grenzen. An demselben Tage ward auch die Dekoration zum zweiten Akte der ›Walküre‹ aufgestellt, eine wildzerklüftete Gebirgsgegend mit einem riesigen, in kühnen Linien aufsteigenden Felsjoch im Hintergrunde.23 Der gute Ausfall alles Bisherigen ließ mit Bestimmtheit[204] voraussehen, daß bis zum Schlusse der Proben keine Unterbrechung stattfinden werde. Am Sonnabend, den 7. August, folgte der erste Akt des ›Siegfried‹, am 8. und 9. die beiden folgenden Aufzüge. Auch in den Proben zur, ›Götterdämmerung‹ glückte Alles. Am Donnerstag, den 12, gelangten die diesjährigen Vorproben mit dem dritten Akte des letzten Teiles zum Abschluß. Der Enthusiasmus, welcher sich in steigendem Maße aller Mitwirkenden und Beiwohnenden bemächtigt hatte, machte sich in einem mächtigen Ausbruche Luft. Das Applaudieren, Stampfen, Hochrufen auf den Meister wollte kein Ende nehmen. In wenigen ernsten Worten dankte er den Ausführenden für den Eifer, den sie während dieser Vorstudien an den Tag gelegt. Es war der tiefste Eindruck, den man je in seinem Leben erhalten. Man fühlte allerseits, daß man mit diesen Vorarbeiten an der Schwelle eines neuen Abschnittes in der Kunstgeschichte stand. In schlagender Weise lieh Liszt dieser Empfindung Worte, wenn er bald darauf brieflich äußerte: ›Von dem Wunderwerke: »der Ring des Nibelungen«, hörte ich kürzlich in Bayreuth mehr als zwanzig Proben. Es überragt und beherrscht unsere Kunstepoche, wie der Montblanc die übrigen Gebirge.‹

Der 13. August, Freitag, vereinigte auf Einladung des Meisters fast das gesamte Personal, außerdem eine größere Anzahl von Freunden, alles in allem 150 Personen zu einem solennen Gartenfest in Wahnfried. Inmitten seiner Künstler feierte er in wirklicher Beglücktheit den Abschluß einer in jedem Sinne bedeutungsvollen Vorarbeit. Zum ersten Male hatten diese sich als ein Ganzes fühlen gelernt und ihre Kräfte an der Durchführung einer höchsten Kunstaufgabe gemessen. Wer das Leben Wagners im Überblick betrachtet, muß sich freilich immer wieder die Frage vorlegen: warum mußte das alles erst so spät geschehen? Weshalb war es dem Meister jetzt erst vergönnt, das Siegfried-Ideal zu verwirklichen, über welches er innerlich doch schon so weit hinaus gereist war? Er fühlte sich demselben in Wahrheit nur noch insoweit verwandt, als es eben ein Werk für die Ewigkeit war, wie jedes erhabenste Kunstwerk, dazu ein Stück seines Wesens, seiner persönlichen Vergangenheit, sein eigenes künstlerisches Fleisch und Blut. Aber als Vierzigjähriger in Zürich, nicht als Sechzigjähriger in Bayreuth hätte er es, unter gleichen Verhältnissen einstudieren müssen, – dann, und nur dann, hätten sich der Inhalt des Werkes und die darin fixierte damalige Entwickelung des Künstlers völlig gedeckt! Und an ihm – wahrlich! – hatte es nicht gelegen, daß es nicht dazu kam! Hätte ihn nicht der Zwang, des Erwerbes und Lebensunterhaltes wegen nach London zu gehen, mitten aus der Arbeit an der Walküre herausgerissen und die völlige Aussichtslosigkeit auf die Verwirklichung seines überschwänglichen Planes ihn dazu veranlaßt, episodisch den ›Tristan‹ zu konzipieren, – so wäre die ›Götterdämmerung‹ mit Sicherheit im Jahre 1859 vollendet gewesen, anstatt ein Vierteljahrhundert später. Gedanken[205] dieser Art traten ihm freilich gerade bei diesem frohen Gartenfest am wenigsten nahe. Er fühlte sich damals in der Tat verjüngt und, wenn je, von dem Druck der auf ihm lastenden Jahre frei. ›Haus und Garten waren glänzend erleuchtet‹, berichtet Liszt brieflich an die Fürstin, ›Militärmusik und Feuerwerk, ein Überfluß an Erfrischungen und Getränken, Alles diente nur als Rahmen der wunderbaren Rede Wagners. Sie gipfelte in dem Gedanken von dem Beruf der Musik, deren Aufgabe es sei alle übrigen Künste des Zeitalters zu regenerieren und neu zu beleben.‹ Keine Feder hat es versucht, ihren Wortlaut für kommende Zeiten festzuhalten, auch nicht diejenige des damals vierundzwanzigjährigen Hans v. Wolzogen, der während dieser ›Vorproben‹ seine erste Bayreuther Feuertaufe empfing. Seit mehreren Jahren hatte dieser noch so junge Mann bereits als ›Wagnerianischer‹ Schriftsteller seine Feder in den Dienst der Sache gestellt: Philologe von Fach, Dichter von Natur, Musiker von Neigung und Kenntnis, ›Wagnerianer‹ durch Vorherbestimmung, hatte ihm einzig die Liebe zu Wagner zu vergänglichen journalistischen Versuchen die Feder in die Hand gedrückt. Aber diese Liebe und Treue selbst war unvergänglich; sie prägte seinem ganzen Leben schon damals die hohe Bedeutung ein, durch welche er in einer einzig innigen Weise mit dem Bayreuther Werke verwachsen sollte. Ihm fiel die Aufgabe zu, die anscheinend, und nach dessen erster, gesunder Entwickelung, Nietzsche bestimmt gewesen war. ›Unvergeßlich bleibt mir‹, so erzählt Wolzogen, ›der festliche Schluß dieser großen Arbeitszeit: im erleuchteten Garten seines neuen Bayreuther Heims gab der Meister seinem Orchester einen fröhlichen Feierabend, und zum Abschiede zog die ganze Menge begeisterter Künstler und Kunstfreunde, ein jeder in der Hand eine bunte Papierlaterne, im »Gänsemarsch« durch die langen Laubengänge des schönen Grundstückes, voran die liebliche Kinderschar, und der Meister selbst, begleitet von seinen beiden großen Hunden,24 die nirgend fehlen durften, – in harmlosester Lust – der deutsche Künstler auf dem Gipfel seines Lebens und Wirkens als der liebenswürdige, herzensreine, genial-naive deutsche Mensch!‹25

Bereits der folgende Tag – 14. August – fand das soeben noch buntdurchwimmelte Städtchen wieder in seiner vorigen Ruhe und Schweigsamkeit. Nach allen Richtungen hin hatten sich die Teilnehmer der großen Tage zerstreut. [206] Die übrig Gebliebenen, hauptsächlich aus dem Sängerpersonal, Liszt, das Schleinitzsche Paar, und wenige andere nächststehende Personen, darunter Heckel, vereinigte dann noch (am 14.) ein größerer geselliger Abend; am Dienstag den 17. war alles still und ausgestorben. Wohl aber konnte der Meister von einem, ›unerhörten Gelingen‹ dieser Vorstudien sprechen. Der Zwischenfall mit Niemann war auf brieflichem Wege bald ausgeglichen; die schadenfrohe Taktlosigkeit der deutschen ›Presse‹ hatte daraus, wie aus einigen ähnlichen, aber unbedeutenderen Vorgängen, so viel sie konnte, Kapital geschlagen Gegen das schamlose Geschwätz dieser Art richtete er eine öffentliche Erklärung, mit deren (verkürzter) Wiedergabe wir diesen Abschnitt unserer Erzählung beschließen:


›Als wie zum Abschlusse der mit so unerhörtem Gelingen beendigten Vorproben zu den nächstjährigen Bühnenfestspielen in Bayreuth stellen sich in der Zeitungspresse Berichte ein über innere Zerwürfnisse, welche das Zustandekommen der Unternehmung zweifelhaft erscheinen lassen sollen. Während alle, namentlich auch die größeren Zeitungen, diese Schmachberichte reproduzieren, sei hiermit von Ort und Stelle aus einfach erklärt, daß alles in ihnen Enthaltene erlogen ist, da selbst von Übertreibungen hier nicht die Rede sein kann, weil dies wiederum den wirklich eingetretenen, jedoch schnell beseitigten, geringen Mißverständnissen Bedeutung beilegen würde.‹

Fußnoten

1 ›Wie Wagner mit seinem Siegfried probte‹, im Maiheft der ›Neuen deutschen Rundschau‹ 1901 (Berlin, S. Fischer).


2 Über das Zwingende, die Phantasie unwillkürlich Bestimmende in seinem Vortrag des ›Mime‹ vgl. auch Band III (II2) dieses Werkes, S. 382.


3 So erhielt z.B. die Koburger Sängerin Frau Sadler-Grün eigens ein vom 20. Juni datiertes Briefchen des Inhalts: ›Hochgeehrte Freundin! Schön pünktlich! Schön pünktlich!! Am 1. Juli!!! Ihr sorgenvoll ergebener Richard Wagner.‹


4 J. Hey, a.a.O. (Maiheft 1901 der Neuen deutschen Rundschau).


5 Unter der Aufschrift: ›Ein Besuch bei Richard Wagner in Bayreuth‹ veröffentlichte Dir. Jauner – lehr zum Verdruß des Meisters, welcher dergleichen gar nicht liebte! – ein vom 19. Juli aus Bayreuth datiertes Feuilleton in der Wiener ›Neuen freien Presse‹ v. 21. Juli 1875, mit einer Schilderung des Hauses und seines Empfanges daselbst. Ganz dasselbe hatte, gegen Ende April der Sänger Reichenberg sich erlaubt und beinahe eine Kündigung seiner Mitwirkung erhalten.


6 G. A. Kietz, Richard Wagner, Erinnerungen, S. 202/5 (stark verkürzt).


7 Kietz, Erinnerungen, S. 205–9 (stark verkürzt, man vergleiche überall das in seiner ungezierten großen Einfachheit so anziehende Original).


8 Der Großherzog hatte Sorge getragen, den Saal des Tempelherrenhauses mit einer Blumendekoration versehen zu lassen: in der Mitte desselben war das vorzüglich gelungene Lenbachsche Porträt der Verstorbenen placiert, welches deren Tochter, Gräfin Coudenhove, zu diesem Zweck auf Liszts Bitte aus Wien nach Weimar geschickt hatte. Ungefähr 150 Personen waren dazu eingeladen: außer dem großherzoglichen Paar die Königin Olga von Württemberg. ›Frau v. Schleinitz und Cosima‹, berichtet darüber Liszt an die Fürstin, ›waren am Vorabend der Feier eingetroffen und sind am Tage nach der zweiten Tristan-Aufführung wieder abgereist. Herr v. Radowitz, der würdige Sohn seines Vaters, begleitete Frau v. Schleinitz.‹ (Liszts Briefe VII, S. 107.)


9 Vgl. die Fußnote auf S. 191 dieses Bandes!


10 Vgl. Bd. III (II2) dieses Werkes, S. 426/27, Bd. IV (III1) S. 354 und S. 243 des vorliegenden Bandes.


11 Liszts Briefe VII, S. 111.


12 Kollegialer Klatsch, an dem es bei solchen Gelegenheiten niemals fehlt, fügte ausmalend hinzu, es habe in jener selben Nacht in den Straßen von Bayreuth seinerseits eine jener ihm eigenen ›Explosionen überschüssiger Kraft‹ gegeben, und auf diese hätten sich die ihm gemachten ernsten Vorhaltungen bezogen, – es bedurfte dessen nicht erst!


13 Kietz, Erinnerungen, S. 213/14.


14 In bezug auf die leitenden Grundsätze bei diesen Engagements ist im allgemeinen die Äußerung gegen Levi (28. August 1874) bezeichnend: ›Aber, verehrtester Freund, ich konnte mich ja doch nur an die Orchester derjenigen Hoftheater wenden, welche die drei Sommermonate (Juni, Juli und August) über schließen? Denn diese drei Monate muß ich ungestört und voll mein Orchester zusammenhaben. Dies somit der einfache Grund, weshalb ich auch München unbeachtet lassen mußte, da ich weiß, daß Sie dort gar nicht oder nur sehr kurze Zeit schließen. Können Sie für die rechte Zeit mir eine Anzahl tüchtiger Musiker frei machen, wer wird Ihnen dafür dankbarer sein als ich?‹ Dann aber (1. Juni 1875) folgt noch, gerade in bezug auf München, die folgende, sehr charakteristische Erwägung: ›Für die ausgewählten Musiker danke ich Ihnen sehr ... Sehr leid tat es mir aber, daß Sie diesen Herren erst noch eine besondere Gratifikation seitens der Hoftheaterintendanz auszuwirken glauben mußten. Keines der Mitglieder der Berliner, Hannoverschen, Darmstädter etc. Hofkapellen genießt dergleichen heimische Gratifikation, und jedes begnügt sich mit der Aufenthaltsentschädigung, welche ich im Namen meiner Patrone ihnen einzig bieten durfte. Wie werden sich nun die Herren Münchener mit ihrer Bevorzugung unter diesen ausnehmen? Und wie kommen gerade diese, ohne welche ich mein Orchester übervollzählig haben kann, dazu, durch besondere Begünstigung eine Auszeichnung zu genießen, die dort, von wo sie erteilt wird, endlich doch mir erwiesen scheint, der ich gar keinerlei Auszeichnungen von seiten des Herrn Generalintendanten in München beanspruche? Der Fall ist mir aus tiefliegenden Gründen völlig unangenehm, schon weil er mich an die widerwärtigsten Erfahrungen meines Lebens erinnert. Sobald nämlich der König von Bayern irgend eine Musteraufführung meiner Werke befahl, stellte sich sofort das ganze Theater- und Orchesterpersonal mit Forderungen von Gratifikationen ein, als ob meine Werke nur durch besondere, gewissermaßen beschwichtigende Gnadenbezeigungen von oben herauszubringen wären, gleichsam durch Schindereien und Plackereien, die besonders vergütet werden müßten. Gewisse Sänger verlangten für ihre Mitwirkung Steigerung ihrer Pensionen u.s.w. Ich sehe nun, etwas Ähnliches hat sich hierbei wieder zugetragen, und muß dagegen gestehen, daß ich durch die andererseits her willig mir entgegengebrachte, sogar aufopferungsvolle Unterstützung etwas verwöhnt bin. – Kurz, ich möchte, man hätte diesmal seine Gunst mir nicht geschenkt: sie wird mir im Kabinett doch angerechnet, wie ich dies seinerzeit sehr wohl erfahren mußte.‹


15 Kietz, Erinnerungen, S. 218.


16 Heinr. Porges, Das Bühnenfestspiel zu Bayreuth (München, Merhoff, 1876), S. 2.


17 Vgl. die briefliche Auskunft an Heckel vom 27. Mai 1875. ›Ihre kleinen Anfragen, wegen dieses oder jenes, ob er Proben besuchen könnte u.s.w. erfordern oft Antworten, die mir nicht so leicht fallen ... Wer gerade da ist und sich bescheiden benimmt, wird am Ende auch Gelegenheit finden, etwas zu hören; nur besondere Erlaubnisse sind hierfür nicht zu erteilen.‹


18 Wir nennen hier nur Graf und Gräfin Schleinitz, Kapellmeister Eckert und Gemahlin, Professor Rohde, Gersdorf, den Maler Adolf Menzel aus Berlin, den vortrefflichen Amerikaner Mr. Schirmer mit seiner ausgezeichneten Gemahlin, die von da ab, über den Tod ihres Gatten hinaus, eine der treuesten Freundinnen des Bayreuther Werkes, des Meisters und seiner Familie blieb u.s.w., u.s.w.A1


19 Prof. H. Krigar (Schwager Adolf Menzels) in der ›Deutschen Rundschau‹ 1875, Oktoberheft, S. 154 ff.


20 Diese Situation hat bekanntlich Adolf Menzel in zwei, häufig reproduzierten Chargen der Nachwelt festzuhalten gesucht.


21 Auf dem Horn hatte er es zu anerkannt virtuoser Fertigkeit gebracht. ›Aber den geborenen Orchestermenschen ließ sein Talent erkennen, sich aller Instrumente zu bemächtigen: Hans Richter konnte man ohne Gefahr für die Aufführung so ziemlich an jedes Pult setzen. Orgel, Klavier, Streicher, Bläser, Schlaginstrumente – sie machten ihm keine Schwierigkeiten. Freilich ein ungeheuerer Vorteil für einen Orchesterdirigenten, wenn er jedem Mitwirkenden auch technisch genau sagen kann, wo es allenfalls fehlt.‹ (G. Schönaich, ›Hans Richter‹, in der Zeitschrift ›Die Musik‹ 1903, III, S. 129.)


22 Briefe Wagners an Heckel, S. 102/4.


23 Vgl. S. 158 dieses Bandes.


24 Marke und Brange (Brangäne), ursprünglich Marco und Bianca geheißen, waren seit 11. Mai die Nachfolger des unvergeßlichen Ruß in der Liebe des Meisters!


25 Wie seltsam, daß sich an dieses schöne Fest für den Meister die Erinnerung knüpfte, daß er gerade bei dieser Gelegenheit, wenn nicht durch eine böswillige, so doch durch eine unreine Land, um einige der im Saale offen ausliegenden kostbaren Andenken bestohlen wurde! Darunter befand sich ein Unikum, eine bei gewisser Gelegenheit in einem einzigen Exemplar geprägte symbolische Denkmünze auf die Schopenhauersche Philosophie, von deren bloßer Bedeutung der leichtfertige Entwender auch nicht das mindeste Verständnis haben konnte.


A1 Eine der treuesten, in den früheren Bänden dieses Werkes wiederholt genannten, älteren Freundinnen des Meisters, Alwine Frommann, wurde gerade in den ersten Tagen des August 1875 aus dem Leben abgerufen.


Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 5, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 187-208.
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